Der Gastkommentar

Die Piraten sind kein Problem, aber auch (noch) nicht die Lösung

Von Torben F r i e d r i c h

Seit 2009 bin ich Pirat. Im Straßenwahlkampf zur Bundestagswahl 2009, wurde ich noch als pädophil beschimpft; heute bezeichnen uns die Presse sowie andere Parteien wahlweise als kommunistisch oder rechtsradikal. All diese Anschuldigungen waren, sind und bleiben haltlos! Es ist nichts weiter als Polemik.

Die gleiche Polemik, die die politischen Akteure in einem ewigen Streit festhält, der eine gemeinsame Problemlösung unmöglich macht -  oder zumindest erschwert. Aber was sind wir sonst? Wir sind nichts weiter als politikinteressierte und stark vernetzte Bürgerinnen und Bürger, die sich zusammengeschlossen haben, um das festgefahrene politische System aufzubrechen. Doch wie hat alles angefangen? Ich war einer von 2000 computerafinen Menschen, die mit dem Internet aufgewachsen sind. Zuerst aus Angst, dass uns dieser freie technische Lebensraum genommen werden könnte und später aus Überzeugung, dass wir das vorhandene politische System mit unseren Erfahrungen verbessern können, schlossen wir uns zu einer neuen Partei zusammen bzw. traten ihr bei. Dabei verließen wir uns auf das uns aus dem Internet bekannten Modell, etwas mit Inhalt zu füllen.

(Zum Autor dieses Gastkommentars: Torben Friedrich (25) ist Mitglied der Piratenpartei und Ratsmitglied in Coppenbrügge. Er ist bereits 2009 Mitglied der Piratenpartei geworden und wurde zum Direktkandidaten für den Wahlbezirk 36 für den Landtag Niedersachsen gewählt. Foto: CC-BY-SA)

 

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Das Internet war von Anfang an ein Teil meines Lebens. Es gab mir die Möglichkeit, aus den mobilen Einschränkungen meines Heimatdorfes auszubrechen. Ich konnte weltweit mit Menschen in Kontakt treten, die die selben Interessen hatten wie ich. Durch die Anonymität die ich auch, wenn ich wollte, in eine absolute Öffentlichkeit wandeln konnte, wurde das Geschlecht, die Nationalität, das Alter oder die Herkunft des Gegenübers zur Nebensache. Die inhaltliche Auseinandersetzung stand immer im Vordergrund und ein Schubladendenken war nicht möglich.

Gerade im Internet, hinter Spitznamen und bunten Bildern kann man von anderen lernen und mit ihnen frei kommunizieren - kann deswegen auch freier die inhaltliche Auseinandersetzung suchen. Ich sprach mit Menschen, die ich ohne das Medium Internet aufgrund von Oberflächlichkeiten oder der Distanz zwischeneinander nie kennengelernt hätte. Ich konnte mir eine eigene Identität schaffen und lernte mich dadurch selbst besser kennen. Täglich sprach - und spreche ich auch heute noch - mit Menschen, die ich vielleicht nie sehen werde und mit denen ich mich trotzdem näher verbunden fühle, als mit einem "besten Freund" im herkömmlichen Sinne.

Diese erlebte und neue Freiheit ist nicht mit der herkömmlichen Vorstellung von Freiheit vergleichbar. Im Internet ist immer ein funktionierendes technisches System notwendig. Dieses System muss zum einen die Rahmenbedingungen sichern und garantieren sowie durchgängig funktionieren, ohne zeitliche Einschränkungen und künstliche Barrieren. Allen Benutzern werden so die gleichen Chancen an Teilhabe ermöglicht.

Wir gaben uns selbst im Internet gemeinsame Diskussionsregeln

Wir gaben uns selbst im Internet gemeinsame Diskussionsregeln, wir schenkten den Menschen, die uns die Rahmenbedingungen wie Foren oder Chats ermöglichen, durch  Moderationsrechte Vertrauen. Hatte das System Fehler, wiesen wir darauf hin, lösten sie gemeinsam oder spendeten bei finanziellen Engpässen, damit der Betreiber das System verbessern konnte: "Jeder hilft halt wie und wo er kann". Wurden die Fehler nicht gelöst oder unser Vertrauen enttäuscht, langweilte einen das Bisherige und es wurde nicht erneuert, so suchte man neue Räume. Es werden im Internet auch heute noch immer wieder neue Plattformen aus Ideen geschaffen, auf denen man weitermachen und aus den vorherigen Fehlern lernen kann.

Ein wundervolles Beispiel für eine solche Idee ist das freie Lexikon Wikipedia. Als Jimmy Wales im Jahr 2001 seine Seite eröffnete, war sie leer. Es gab wenige und kaum definierte Regeln und nur den Wunsch, dass möglichst viele Menschen daran mitarbeiten. Sie sollten das Wissen der Menschheit gemeinsam zusammentragen, es mit den persönlichen Schwerpunkten bereichern und gegenseitig den Inhalt überprüfen. Jeder konnte mit geringen technischen Kenntnissen seine berufliches, regionales oder anderweitiges Wissen beitragen und somit die Seite in Teamarbeit mit Inhalten befüllen.

Als ich 2004 für eine Hausaufgabe im Geschichtsunterricht in der Wikipedia über die römische Cloaca Maxima recherchieren wollte, fand ich dort noch keinen Eintrag. Also trug ich mein bisheriges gesammeltes Wissen zusammen, kopierte meine kleine Hausaufgabe dort hinein und verlinkte einige Quellen. Mein damaliger Lehrer fand bei der Korrektur den Text meiner Hausaufgabe auch in der Wikipedia und wollte mir eine Sechs für das "Abschreiben aus dem Internet" geben. Also erklärte ich ihm, dass das zusammengetragene Wissen dort von mir stammte und aus der Sechs wurde eine Eins für das "teilen mit dem Internet". Selbst heute profitieren noch interessierte Menschen von einigen Satzfetzen, die ich dort eingestellt habe und die trotz der Verbesserungen erhalten geblieben sind.

Auch bei diesem Gastkommentar handelt es sich nur um eine Sammlung von Wissen und steht, wie die Inhalte der Wikipedia, unter der sogenannten freien Lizenz "CreativeCommons" (CC BY-SA  3.0). Das bedeutet, es ist gewünscht, ihn zu nutzen und sein eigenes Wissen dazu beizutragen, um ihn zu verbessern, ihn zu kritisieren oder ihn weiter zu entwickeln. Jeder darf den Text frei verwenden und weitere Texte darauf aufbauen. An ihm selbst haben bereits mehrere Personen mitgearbeitet, ihn gegengelesen, korrigiert und verständlicher gemacht.

Und genau dies ist nach meinem Empfinden der neue Anspruch, den die Piratenpartei in das politische System trägt.

Das Problem sind die Altparteien, die einfach nicht verstehen wollen

Wir sind nicht, wie aktuell von allen Altparteien und der Presse beschrieben, ein Problem für die Demokratie. Auch nicht für einzelne Parteien wie die FDP, weil wir aus dem liberalen Lager Stimmen gewinnen. Wir sind auch kein Problem für die Grünen, nur weil wir Zuspruch aus dem ökologischen Lager gewinnen. Wir sind nicht Schuld, dass die Stimmen nicht mehr für eine rot-grüne oder schwarz-gelbe Koalition reichen könnten. Und wir sind auch nicht für die Probleme verantwortlich, die fünf Jahre Stillstand unter einer großen Koalition mit sich bringen würden.

Das Problem sind die Altparteien, die einfach nicht verstehen wollen oder können, dass sie ein veraltetes System benutzen. Die Piraten bekommen von überall, egal ob CDU, SPD, Grüne, FDP, Linke und Sonstigen, Zuwachs, weil dieses bisherige System nicht mehr erwünscht ist. Dabei freuen wir uns am Meisten über die bisherigen Nichtwähler, die sich für "diese Piraten" entscheiden wieder wählen zu gehen. Vor allem aber darüber, dass sie wieder Interesse daran finden, sich am politischen System zu beteiligen. Schließlich ist es nicht nur der Anspruch der Piratenpartei, Inhalte in die Politik zu tragen. Es geht auch um neue Rahmenbedingungen, in denen sich wieder jeder beteiligen kann - und bestenfalls auch möchte. Wir sind mit einer anderen Logik in die Politik gegangen, als die bisherigen Teilnehmer im Parteiensystem. Uns geht es nicht primär um politische Macht um eigene Themen durchzusetzen. Es geht viel mehr darum, das System auf Grundlage unserer Erfahrungen mit dem Internet zu verbessern und gemeinsam ein funktionierendes Netzwerk zu schaffen.

Ich möchte andere Parteien nicht für gemachte Fehler tadeln müssen und wenn ich es selbst nicht besser kann, auch keine Verbesserungsvorschläge liefern. Jeder würde merken, dass dies Augenwischerei wäre. Ich persönlich möchte es ermöglichen, das Wählerinnen und Wähler ihr eigenes Wissen mit vielen Menschen teilen können, um gemeinsam die bestmögliche Lösung zu finden. Mir ist egal, wo sich dieser Mensch beteiligt, sei es bei rot, schwarz, grün, gelb oder nun orange. Er kann sogar eine andere Haltung einnehmen als ich. Ich möchte mit allen Beteiligten in ein inhaltliches Gespräch gehen können, um gemeinsam Lösungen zu erarbeiten, die nicht durch Vorurteile geprägt sind, nur weil sie aus anderen Meinungen oder Erfahrungen entstanden sind. Die Piratenpartei bietet jeder Person die Möglichkeit, sich aktiv einzubringen, seine Erfahrungen und Ideen mitzuteilen, sich  auszutauschen und dann gemeinsam herauszufinden, ob es für die eigenen Ideen Mehrheiten gibt.

Dies lähmt uns manchmal sehr und macht uns auch anfälliger als andere Parteien. Wir müssen Aufgrund unserer Offenheit gegen menschenverachtende und totalitäre Ideen kämpfen - doch nur weil wir uns diese offene Struktur gegeben haben und jeder diese auftretenden Diskussionen offen und transparent mitverfolgen kann, können wir herausfinden, wie die Mehrheit unserer Mitglieder und auch die Gesellschaft dazu steht und so gemeinsam auf Fakten basierende Regeln finden.

Wir werden ebenfalls gerne als Raubkopierer dargestellt, da wir Inhalte ungefragt kopieren würden, weil wir ja eigentlich gar keine Inhalte hätten und die Inhalte die wir haben sowieso nicht umsetzbar wären. Doch was spricht dagegen, sich auch für politischen Inhalte anderer Parteien einzusetzen, wenn diese sinnvoll sind? Gerade die Kompetenz, eine inhaltlich anders ausgerichtete Partei für ihre guten Themen loben zu können, ist wünschenswert. Nur dies schafft die Chance, die Festgefahrenheit des aktuell existierenden Lagerdenkens aufzubrechen und neue politische Wege gehen zu können, denen die besten Ideen der unterschiedlichen Parteien vereint werden. Die CDU beispielsweise betreibt mit Atomausstieg und Mindestlohn momentan nichts anderes, überzeugt dadurch aber nicht ihre bisherige Wählerschaft, da sie das ihr gegebene Vertrauen auf Grundlage konservativer Werte aufs Spiel setzt.

Bisherige Parteien sehen Wählerstimmen als Währung

Bisherige Parteien sehen Wählerstimmen als Währung. Nicht wegen der Wichtigkeit der Themen, sondern für den erhofften Wahlerfolg, richten sie sich passend zu den Wahlen thematisch nach den Bedürfnissen potentieller Wähler aus. Themen werden hierbei austauschbar - egal wie wichtig sie sind. Wichtig ist nur die Erhaltung der politischen Macht. Anders ist es bei den Piraten. Bei uns tragen die Bürgerinnen und Bürger ihre Themen, Schwerpunkte und Interessensgebiete an alle Mitglieder heran und füllen so aktiv die Hülle "Piratenpartei". Bei uns ist anscheinend Politik durch eine andere Form von Teilhabe wieder interessant, weil jeder gleichberechtigte Grundvoraussetzungen vorfindet.

Das führt zu dem Schluss, dass die von uns gewählten Politiker wieder Moderatoren sein müssen. Ihre Aufgabe sollte es sein, die Verwaltung der komplexen Themen zu übernehmen, die Inhalte der Bürgerinnen und Bürger aus den verschiedenen Lagern zusammen zu tragen und die schwer verständlichen Probleme den Menschen einfach zu erklären.

Daher legen wir uns auch so schwer auf Koalitionen fest. Alle gewählten Vertreterinnen und Vertreter der Parteien haben ihre Legitimation durch die Bürgerinnen und Bürger erhalten, die bereit waren, wählen zu gehen. Wenn wir dazu beitragen, dass es keine feste Koalition mehr gibt, muss der Inhalt wieder in den Vordergrund treten und alle gewählten Parteien, die nicht die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit untergraben, berücksichtigt werden.

Der Satz "Wählen gehen bringt ja eh nichts" rührt meiner Meinung nach nicht daher, dass die Menschen denken, es würde sich nichts ändern. Eher liegt diese Einstellung an der Erfahrung, dass Parteien in der Opposition handlungsunfähig gemacht werden. Wenn nun niemand mehr auf dem ersten Blick handlungsfähig ist, führt dies dazu, dass die Debatte von den Volksvertretern aller Parteien wieder moderiert werden muss. Es muss eine thematische Auseinandersetzung stattfinden, um Mehrheiten zu finden. Jede abgegebene Stimme muss etwas wert sein, weil jede Stimme notwendig ist um Themenschwerpunkte zu finden und zu setzen.

Auf dem ersten Blick mag dies ein Problem sein, doch es ist eine Bereicherung.

Aktuell bin ich eines von knapp 32.000 demokratischen Problemen für die anderen Parteien, denn in drei Jahren sind fast 30.000 Mitglieder in die Piratenpartei eingetreten. Das Problem ist aber nur solange für die anderen Teilnehmer ein Problem, solange sie es nicht als demokratische Chance begreifen. 32.000 Menschen, die alle ihre Themen und Ideen in die Piratenpartei einbringen, weil sie weiterhin aktiv an der Politik mitgestalten wollen, sind nicht gefährlich, nur weil sie sich neue Rahmenbedinungen geben wollen. Würde es die Piraten nicht geben, hätten diese Menschen sich vielleicht ebenfalls von unserem so wichtigen politischen System abgewandt.

Die Piraten wären in der technischen Sprache bisher also nur ein Update

Die Piratenpartei stellt somit kein Problem dar, ist aber auch nicht "die Lösung" - das wollte sie auch nie sein. Sie ist nur der erste Schritt, das demokratische System wieder interessanter zu machen, indem sie stärkere Beteiligung und einfachere Einsicht ermöglicht. Die Piraten wären in der technischen Sprache bisher also nur ein Update. Die uns zugeschriebene "digitale Revolution" ist nur dann gegeben, wenn die anderen Parteien daraus lernen. Sie müssen erkennen, dass sie sich mit ihrer bisherigen Polemik gegen die anderen Parteien und die dadurch verhärteten Fronten nicht interessanter machen. Viel mehr gefährden sie durch dieses Verhalten die Demokratie. Sie müssen lernen, sich ernsthaft inhaltlich mit den anderen Parteien auseinanderzusetzen, um gemeinsam etwas zu entwickeln und sich selbst zu verbessern. Es gibt den Spruch, die Piratenpartei habe vielleicht nicht ein Programm anzubieten, sondern ein neues "Betriebssystem" für politische Arbeit. Und dies erwächst einfach aus den für uns normal erscheinenden Möglichkeiten, die das Internet bietet: Teilhabe ohne Einschränkungen, Gemeinschaft, Freiheit und Individualität.

Wer am Ende das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger bekommt, entscheidet zum Glück nicht das gegenseitige polemische beschimpfen der Politik, sondern noch immer jede Wählerin und jeder Wähler. Und mit diesem Verständnis müssen die Parteien dann für jeden verständlich ihre Arbeit gestalten und anfangen zusammen zu arbeiten. Wir machen dies nur anders, als die Anderen.

(Dieser Artikel steht unter der sogenannten CC-BY-SA 3.0-Lizenz und wurde für Weserbergland-Nachrichten.de verfasst. Bitte als Ursprungsquelle verwenden.)

 
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